Verschwörungstheorien

Joachim Hirsch

Von Verschwörungstheorien ist derzeit viel die Rede. Das hat vor allem die Corona-Pandemie mit sich gebracht, die einige Esoteriker, Spinner und auch Rechtsradikale veranlasst hat, hinter dem Auftauchen und der Verbreitung des Virus allerhand dunkle Mächte – von Außerirdischen bis hin zu Bill Gates – auszumachen. Die „sozialen Medien“ waren dabei äußerst förderlich, wie sie insgesamt dazu beigetragen haben, den Abgründen des Stammtischs öffentliche Präsenz zu verleihen. Ob das die Aufmerksamkeit rechtfertigt, die ihnen von der Politik und den Medien geschenkt wird, ist eine Frage. Immerhin konnte damit jedoch die durchaus gerechtfertigte Kritik an der plan- und strategielosen Regierungspolitik bei der Bekämpfung der Pandemie mit den „Querdenkern“ in einen Topf geworfen und damit unschädlich gemacht werden. Mit diesem Begriff ist es ohnehin so eine Sache: Die Fähigkeit zum „Querdenken“ galt einmal als eine Eigenschaft nonkonformistischer Intellektueller, die sich trauten, Zweifel an den Erzählungen der Herrschenden anzumelden. Dieser Typus ist offensichtlich nicht mehr erwünscht, was etwas über den gegenwärtigen Zustand der sich als demokratisch bezeichnenden „Zivilgesellschaft“ aussagt.

Nun ist es mit Verschwörungstheorien eine etwas komplizierte Sache. Allgemein gesprochen bezeichnet man als Verschwörung die geheime Zusammenarbeit mehrerer Akteure mit der Absicht, ein rechtswidriges oder illegitimes Ziel zu erreichen. Verschwörungen gab und gibt es tatsächlich und der Versuch, sie zu erklären ist nicht von vorneherein falsch. Allerdings gibt es Konstellationen, die wie Verschwörungen aussehen, in Wirklichkeit aber keine sind, während es auf der anderen Seite Zusammenhänge gibt, die in der öffentlichen Diskussion nicht als Verschwörungen behandelt werden, die aber durchaus als solche begriffen werden können. Dazu einige aktuellere Beispiele:

  • Wenn in einem Frankfurter Polizeirevier eine rechtsradikale Chatgruppe existiert und eben von diesem Revier aus die Adresse und die persönlichen Umstände einer Anwältin ermittelt werden, die im Münchener NSU-Prozess die Angehörigen eines Mordopfers vertreten hat. Das umfasste neben der Wohnanschrift auch die Namen ihrer Tochter und ihrer Eltern. Daraufhin erhielt sie Morddrohungen gegen sie und ihre Angehörigen – unterzeichnet mit NSU 2.0. Dasselbe passierte als „links“ eingestuften Politiker*innen. Unternommen wurde zunächst einmal nichts. Polizeiliche Ermittlungen waren angeblich erfolglos und auch staatsanwaltschaftliche Untersuchungen brachten bislang kein Ergebnis, angeblich weil die Taten nicht einzelnen Personen zugeordnet werden konnten. Schließlich wurde ein Berliner Rechtsradikaler ermittelt, von dem die Drohungen ausgegangen sein sollten. Er soll unter bisher nicht geklärten Umständen an die Daten gelangt sein. Ein Einzeltäter also – dumm nur, dass nach dessen Festnahme erneut Drohmails verschickt wurden. Dass rechtsradikale Gruppierungen und Personen enge Kontakte unterhalten, wurde nicht einmal erwähnt. Von derartigen Netzwerken war nicht die Rede, und natürlich auch nicht von Verschwörung oder einer kriminellen Vereinigung. Dabei wird es wohl bleiben. Auch der zuständige Hessische Innenminister reagierte nicht und versuchte eher, die Angelegenheit herunterzuspielen. Es handle sich eben um einen Einzelfall, obwohl genügend Informationen über rechtsradikale Gruppierungen in der Polizei vorliegen, nicht nur in Hessen. Erst kürzlich wurde wieder eine neue aufgedeckt, bei einem Sondereinsatzkommando und wieder in Frankfurt. Das Verhalten der hessischen Regierung und ihrer Behörden ist in diesem Zusammenhang ohnehin höchst dubios. So etwa als versucht wurde, einen bei einem NSU-Mordanschlag in Kassel anwesenden V-Mann des Verfassungsschutzes aus den Ermittlungen herauszuhalten oder der zunächst als rechtsradikaler Gefährder eingestufte Mörder des Regierungspräsidenten Lübcke vom Verfassungsschutz nicht mehr beobachtet wurde.
  • Der Wirecard-Skandal: Wirecard, ein im Dax gelisteter Finanzdienstleistungskonzern stellte sich als großangelegtes Betrugsunternehme heraus, mit einer Schadenssumme, die bei 22 Milliarden Euro liegt. Es erfreute sich über Jahre hinweg erstaunlichen Wohlwollens und ungewöhnlich starker Unterstützung durch die Politik. In dem zu diesem Fall eingerichteten parlamentarischen Untersuchungsausschuss mussten drei Minister*innen, eine Staatsministerin und ein Staatssekretär aussagen. Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Scholz hatten gar einen „Escort Service“ organisiert, um dem Unternehmen den Zugang zum chinesischen Markt zu erleichtern. Und die Staatsministerin für Digitales, Dorothee Bär von der CSU, war – offenbar von ihrem Job nicht ausgelastet – stark darum bemüht, Wirecard den Zugang zum Kanzleramt zu öffnen. Es handelte sich schließlich um ein bayerisches Unternehmen. Deshalb waren auch mehrere CSU-Ex-Minister für dieses als Berater tätig. Dies alles zu einer Zeit, als bereits Erkenntnisse über den wahren Charakter von Wirecard öffentlich waren. Die politisch Verantwortlichen gaben an, davon nichts gewusst zu haben. Stattdessen wurde der für die Financial Times tätige Journalist, der an der Aufdeckung des Skandals wesentlichen Anteil hatte, von den Anklagebehörden mit einem Ermittlungsverfahren überzogen. Gegen andere setzte das Unternehmen Privatdetektive ein. Interessant war auch das als „Versagen“ bezeichnete Verhalten der Aufsichtsbehörden. Insbesondere die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BAFIN) hatte Informationen über die Umtriebe von Wirecard lange unter Verschluss gehalten und fühlte sich nicht genötigt, ihren Pflichten nachzukommen – was unter dem Druck der Öffentlichkeit schließlich zur Entlassung des Präsidenten und der Vizepräsidentin führte. Dazu passt, dass die Staatsanwaltschaft Frankfurt inzwischen gegen Mitarbeiter der BAFIN wegen strafbarem Insiderhandels mit Wirecard-Aktien ermittelt. Und schließlich die Wirtschaftsprüfer, insbesondere Ernest & Young, die über Jahre hinweg den frisierten Bilanzen des Unternehmens Unbedenklichkeit bescheinigt hatten. Sie wurden schließlich von ihm bezahlt und kamen in den Genuss weiterer Aufträge. Auch hier machten Mitarbeiter Geschäfte mit Wirecard-Aktien. Die mit der Kontrolle der Wirtschaftsprüfer betraute Aufsichtsorganisation, die dem Wirtschaftsminister unterstellt ist, war ebenfalls zu einem Einschreiten nicht willens oder in der Lage. Eine Verschwörung war dies natürlich nicht, wenn auch die Süddeutsche Zeitung von einem hier tätigen „Netzwerk“ gesprochen hat. Und diesen Begriff hielten schließlich auch die Oppositionsvertreter*innen im Untersuchungsausschuss des Bundestags für angemessen.
  • Die BAFIN spielt noch in einem anderen Zusammenhang eine merkwürdige Rolle: dem Cum-Ex-Skandal. Dabei ging es darum, durch Manipulationen mit Aktiengeschäften von den Finanzämtern Rückzahlungen für Steuern zu erwirken, die tatsächlich nie gezahlt worden waren. Der Schaden: rund 10 Milliarden EURO. Der BAFIN wurde bereits 2007 der Bericht über die Aussagen eines Whistleblowers zugespielt, der dieses Vorgehen erläutert hatte. Dieser Bericht blieb unter Verschluss. Weder Finanzbehörden noch Staatsanwaltschaften wurden informiert, obwohl dies nach der Rechtslage erforderlich gewesen wäre. Stattdessen kontaktierte die BAFIN die als Mitwirkende an dem Steuerbetrug genannte WestLB – die Nordrhein-Westfälische Landesbank – und ließ sich von dieser versichern, dass alles seine Ordnung habe. Die Bank kassierte für ihre Mithilfe eine höhere Millionensumme. Ebenfalls an den Cum-Ex-Manipulationen beteiligt war die Hamburger Warburg-Bank. Auch sie wurde von den Finanzbehörden geschont. Erster Hamburger Bürgermeister war damals Olaf Scholz. Staatsanwaltschaften, die Ermittlungsverfahren einleiten wollten, wurden von der Politik gestoppt. Und auch hier waren Wirtschaftsprüfungsunternehmen an der Verschleierung beteiligt. All das hatte weder rechtlich noch politisch Konsequenzen. Abgesehen von der schon erwähnten späteren Ablösung des BAFIN-Führungspersonals.
  • „Seehofers Tafelrunde“, wie das die Süddeutsche Zeitung genannt hat (10./11.4.2021). Der damalige bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende, heute Bundesinnenminister hatte sich mehrmals im Separee eines Münchner Luxusrestaurants mit Wirtschaftsgrößen zwecks „Spenderpflege“ getroffen. Dabei waren unter anderem Vertreter der Immobilien-, der Rüstungs- und Finanzindustrie. Organisiert wurden diese Veranstaltungen vom bayerischen Exminister Sauter, der aktuell in einen Korruptionsskandal bei der Beschaffung von Atemschutzmasken verwickelt ist. Dabei waren auch wichtige Mandanten der Sauterschen Anwaltskanzlei, was für deren Geschäfte sicherlich förderlich war. Eine Verschwörung war das nicht, aber man darf annehmen, dass es dabei nicht nur um Kontaktpflege, sondern konkreter um Geben und Nehmen ging. Daneben gibt es den üblichen Lobbyismus, der ziemlich verdeckt abläuft und des Öfteren auch mit Bestechung verbunden ist. Jüngster Fall ist die Affäre um die Bestechung von Abgeordneten der CDU und CSU in der parlamentarischen Versammlung des Europarats durch den aserbeidschanischen Präsidenten. Mehrere Abgeordnete erhielten mindestens 3,5 Millionen EURO dafür, dass sie eine Verurteilung des Landes wegen unsauberer Wahlen, Machtmissbrauch und Korruption verhinderten. Das ist auch lange Zeit gelungen, zusammen mit ebenfalls bestochenen Abgeordneten aus anderen Ländern. In Verdacht stehen auch ein ehemaliger Staatssekretär und der Regierungssprecher von Helmut Kohl (SZ 3.5.21).

Es gibt also einigen Anlass, beim Gebrauch des Begriffs Verschwörungstheorie etwas vorsichtig zu sein. Offensichtlich ist er auch Bestandteil eines Herrschaftsdiskurses, der auf Ausgrenzung und Delegitimierung zielt. Als Beispiel für eine Konstellation, bei der sich unterschiedliche, aber voneinander unabhängige Interessen sich in der Weise verbinden, dass man eine Verschwörung vermuten könnte ist die Regierungspolitik in der Corona-Krise.

Diese weist – abgesehen davon, dass sie einigermaßen chaotisch war, einige Merkwürdigkeiten auf. So wurden die auferlegten Beschränkungen mit dem Vorrang des Lebensschutzes begründet. Umso eigentümlicher ist es, dass längere Zeit nach dem Auftreten des Virus der Schutz besonders gefährdeter Menschen – etwa in Alten- und Pflegeheimen oder Massenunterkünften – eher vernachlässigt wurde. Bei der generell für alle geltende Einschränkung von Freiheitsrechten wurde weder ihre Zweckdienlichkeit noch ihre Verhältnismäßigkeit überprüft. Und das angesichts der Tatsache, dass die durch die Kontaktbeschränkungen ausgelösten „Kollateralschäden“ keineswegs unerheblich sind. Es war die Strategie der Regierung und der mit ihr eng kooperierenden Medien, Ängste zu schüren, um die Akzeptanz für ihre Maßnahmen zu erhöhen. Nicht beachtet wurde dabei, dass Angst und Stress dazu führen, die Immunabwehr zu schwächen und damit die Erkrankungsgefahr zu vergrößern. Die Impfkampagne, also die Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen stellte sich als ziemliches Chaos heraus. Eine „Corona-Diktatur“, wie einige „Querdenker“ behaupteten gab es sicher nicht, aber die Verfassung wurde erheblich beschädigt –mit noch nicht absehbaren Folgen. In wesentlichen Teilen wurde sie faktisch außer Kraft gesetzt, etwa was die Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseinschränkungen oder den Vorrang der Würde der Menschen angeht. Das aus der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten bestehende Gremium wurde unter Ausschaltung des Parlaments zum eigentlichen Gesetzgeber. Dieses wiederum stützte sich bei seinen Entscheidungen auf Inzidenzwerte, die recht fragwürdig sind. Sie sind u.a. vom Umfang der durchgeführten Tests abhängig und sagen deshalb wenig über die tatsächlich vorhandenen Infektionen aus. Dazuhin wurden die Grenzwerte anscheinend willkürlich immer neu und unterschiedlich definiert. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Dies alles gab Verschwörungstheorien durchaus einige Nahrung. Dennoch ist die Lage komplizierter. Es handelte sich hier vielmehr genau um den Fall, dass recht unterschiedliche und unabhängig voneinander operierende Interessen zusammenspielten, ohne dass dabei gemeinsame Absprachen eine Rolle spielten. Dazu gehören die Medien, die durch Katastrophenberichte ihre Quote zu steigern trachten. Die Pharma- und Medizintechnikindustrie und die Internethandelskonzerne, die ihre Umsätze zu Lasten des stationären Einzelhandels enorm steigern konnten. Oder Mediziner und Virologen, deren gesteigerte Medienpräsenz zumindest dem Erwerb von Drittmitteln förderlich ist. Und die Politiker*innen, die angesichts einer anfangs tatsächlich schlechten Informationslage auf jeden Fall kein Risiko eingehen wollten: Flucht aus der Verantwortung also. Abgesehen davon, dass bei der Corona-Politik ein erhebliches Maß an schlichter Inkompetenz zu verzeichnen war, nicht zuletzt beim Gesundheitsminister, der Apotheken und Kliniken enorme Gelder zuschanzte und bei der Abrechnung von Masken und Tests Betrugsmanövern Tür und Tor öffnete. Dieses Maß an Inkompetenz müsste Verschwörungstheoretikern eigentlich zu denken geben. Im Übrigen wirkten auch da die tatsächlichen Machtverhältnisse. Während der Bevölkerung einschneidende Beschränkungen auferlegt wurden, blieb die Industrie von entsprechenden Maßnahmen lange verschont.

Diese Konstellation hatte indessen deutliche Wirkungen: Eine Folge ist die Gewöhnung an den Ausnahmezustand und an die Einschränkung zentraler Grundrechte sozusagen als Normalfall. Die Verfassung steht nun offensichtlich zur Disposition des Infektionsschutzes. Und dies angesichts der Tatsache, dass die Bedrohung durch das Virus noch lange nicht vorüber sein wird und neue Pandemien bereits anvisiert werden. Der sich verschärfende Klimanotstand wird in Zukunft zu weiteren Freiheitsbeschränkungen führen. Auch diese konnten nun eingeübt werden. Die Corona-Krise war darüber hinaus der Anlass zu einem weiteren Ausbau des Überwachungsstaates. Angesichts drohender ökonomischer und gesellschaftlicher Krisen dürfte sich dies als herrschaftstechnisch recht wirksam erweisen. Dies könnte wiederum Verschwörungstheorien Nahrung geben.

Interessant ist, dass die Kritik an der Corona-Politik – soweit überhaupt – von liberaler Seite kam. Von links herrschte eher Schweigen, wenn nicht der Ruf nach noch härteren staatlichen Maßnahmen laut wurde – siehe z.B. die ZeroCovid-Initiative. Das ist erklärungsbedürftig, hatten doch bisher linke Strömungen, Bewegungen und Gruppierungen sehr wesentlich zur Entwicklung mehr demokratischer und emanzipativer Verhältnisse in diesem Lande beigetragen. Eine Rolle bei dieser Zurückhaltung mag die Furcht gespielt haben, bei jeder Kritik den „Querdenkern“ zugerechnet zu werden. Oder auch, dass angesichts einer für alle lebensbedrohenden Situation für Gesellschafts- und Politikkritik kein Platz mehr zu sein schien. Besonders bedeutsam dürfte aber ein Widerspruch sein, der linkem Denken vielfach immer noch eigen ist: Zwar bildete die Kritik am kapitalistischen Staat ein zentrales Moment linker Theorie, aber gleichzeitig galt der Staat – sofern er sich in den richtigen Händen, im Zweifel einer revolutionären Partei befindet – als die Instanz, die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen und regulieren sollte. Die staatssozialistische und durch einen gewissen Avantgardismus ausgezeichnete Tradition scheint immer noch wirksam zu sein. Dann ist es kein Wunder, wenn in einer gesellschaftsbedrohenden Situation der Staat als entscheidender Rettungsanker wahrgenommen und die Kritik an seinen Maßnahmen für nicht mehr relevant oder gar schädlich angesehen wird. Angesichts von Verhältnissen, in denen das Leben aller bedroht zu sein scheint, liegt der Rückgriff auf den Hobbesschen Leviathan nahe. Liberale Freiheitsrechte spielen da, wenn überhaupt, eine geringere Rolle. Und demokratische gesellschaftliche Organisationsformen und Initiativen ebenso (vgl. dazu den Beitrag von Andreas Wulf).

Die Corona-Krise wäre also Anlass genug, genauer und selbstkritisch über ein emanzipatives linkes Gesellschaftsverständnis nachzudenken.